* 35 *
Das Drachenboot verlor rasch an Höhe. Soeben hatte Septimus eine Bruchlandung auf einer kleinen, von Hühnern wimmelnden Insel verhindert, und das hatte den Drachen die letzte Kraft gekostet. Jetzt ließ er mit stumpfem Blick den Kopf hängen, und der unverletzte Flügel zitterte vor Anstrengung.
»Sag ihm, dass es nicht mehr weit ist«, rief Septimus nach vorn zu Jenna, die dem Drachen unablässig gut zuredete. »Ich kann schon den Fluss sehen. Sag ihm, dass er nur noch ein paar Minuten durchhalten muss ...«
»Wir fliegen gefährlich tief«, murrte Nicko und spähte über die Seite. Sie glitten dicht über eine weite hellgrüne Fläche hinweg. Die Farbe war ein untrügliches Zeichen für den alles verschlingenden Wabberschlamm. »Vielleicht sollten wir uns einen Platz zum Notlanden suchen.«
»Wo denn?«, raunzte Septimus.
»Keine Ahnung. Auf einem flachen Stück eben.«
»Einem flachen Stück Wabberschlamm, meinst du wohl? Mit einem Haufen Braunlingen drin, wie?«
»Schon gut, Sep. Kein Grund, so gereizt zu sein.«
Septimus blickte unverwandt zum Fluss. »Ich ... ich will sie nur wohlbehalten zurückbringen. He!« Das Boot machte einen heftigen Ruck. »Weiter so, weiter!«, murmelte Septimus vor sich hin. »Du schaffst es. Ja ... ja, du schaffst es!«
Nicko feuerte den Drachen an. Er fühlte sich hilflos, und für ihn gab es nichts Schlimmeres auf der Welt, als auf einem Boot zu stehen und nichts tun zu können.
Plötzlich neigte sich das Deck bedrohlich zur Seite. »Wir schaffen es nicht, Nicko«, sagte Septimus tonlos.
»Schon möglich. Kannst du hier notlanden?«
»Ich kann nicht behaupten, dass ich es in letzter Zeit mal probiert hätte. Das wird kitzlig.«
»Ich weiß.«
Das Drachenboot sackte erneut ab, und Septimus hatte das Gefühl, sein Magen sei in der Luft hängen geblieben.
»Geh runter, Sep«, sagte Nicko grimmig.
»Ja, wir ... he, Augenblick mal ... was ist denn das? Das hat uns gerade noch gefehlt!«
Eine kleine weiße Wolke tauchte über den Marschen auf und jagte auf sie zu.
»Simon gibt wohl nie auf, was?«, sagte Nicko. »Und dass er uns helfen will, ist kaum anzunehmen. Mist, er ist schnell!«
Nur ein paar Minuten später war die Wolke da, und dichter weißer Nebel hüllte das Boot ein.
»Siehst du ihn, Sep?«, drang Nickos Stimme durch die Wolke.
»Nein ... wo ist er?« Septimus hielt die Ruderpinne umklammert und spähte angestrengt nach vorn, aber er sah nur undurchdringliches Weiß. Er machte sich darauf gefasst, jeden Augenblick das Krachen eines Feuerblitzes oder das Platschen des Wabberschlamms zu hören.
Plötzlich rief Jennas Stimme aufgeregt durch den Nebel: »Der Drache sagt, dass er hochgehoben wird. Die Wolke trägt ihn.«
Noch während sie sprach, spürte Septimus, wie das Boot zur Ruhe kam. Das Zittern bei jedem Flügelschlag hörte auf, und gleich darauf verstummte auch das besorgniserregende Ächzen und Knarren, das die verzweifelten Bemühungen des Drachen, sich in der Luft zu halten, begleitet hatten. Nur das leise Zischen der Luft, die am Boot vorbeistrich, war noch zu hören.
»Das ist gar nicht Simon, oder, Sep?«, flüsterte Nicko, den die Wolke irgendwie einschüchterte.
»Nein, das ist... ach, ich weiß auch nicht, was es ist«, antwortete Septimus. »Merkwürdig.«
»Hm ... wohin wir wohl fliegen?«, fragte Nicko, dem die seltsame Atmosphäre in der Wolke unheimlich war. Sie erinnerte ihn an etwas oder jemanden, aber er kam nicht darauf, an was – oder an wen.
Auch Septimus war die Sache nicht ganz geheuer. Seine Erleichterung war einem mulmigen Gefühl gewichen. Es behagte ihm gar nicht, dass er die Herrschaft über das Boot verloren hatte. Er legte die Ruderpinne nach links, dann nach rechts, doch es war zwecklos. Das Boot reagierte überhaupt nicht mehr.
Wieder tönte Jennas Stimme laut durch den Nebel. »Hört auf, da hinten rumzuspielen!«
»Was?«, schrie Septimus zurück.
»Der Drache sagt, ihr sollt aufhören, am Ruder herumzuspielen. Wir landen gleich.«
»Wo denn?«, riefen Septimus und Nicko gleichzeitig.
»Auf dem Fluss, ihr Dummköpfe. Wo denn sonst?«
Septimus spürte, wie das Boot tiefer ging und sich nach vorn neigte. Er umklammerte das Ruder, unschlüssig, was er tun sollte – und plötzlich roch er den Fluss. Jeden Augenblick gingen sie auf dem Wasser nieder, und er konnte nichts sehen. Was, wenn sie ein Boot rammten? Oder zu steil anflogen und untergingen? Wenn doch nur der Nebel verschwinden würde, damit er sah, wohin sie flogen. Und als könnte der Nebel seine Gedanken lesen, ballte er sich zu einer kleinen weißen Wolke zusammen und schwebte davon, zurück über das Marschland, wo er hergekommen war.
Septimus achtete nicht darauf, wohin die Wolke verschwand. Seine Augen waren auf das dunkelgrüne Wasser des Flusses gerichtet, das rasch näher kam. Sie flogen zu schnell. Viel zu schnell.
»Langsamer!«, rief er dem Drachen zu.
Im letzten Augenblick, kurz bevor sie auf dem Wasser aufschlugen, spreizte der Drache die Flügel so weit wie möglich, reckte den Kopf in die Höhe und senkte den Schwanz. Klatschend prallte er aufs Wasser, hüpfte über die Wellen und rutschte mit vollem Tempo an ein paar alten Fischern vorbei, die für ihr Anglerlatein bekannt waren. Als sie noch am selben Abend in der Schenke Zur Alten Forelle ihre neueste Geschichte erzählten, überraschte es sie nicht sonderlich, dass ihnen niemand glaubte. Am Ende des Abends glaubten sie selber nicht mehr, was sie gesehen hatten.
Einen halben Kilometer flussaufwärts, kurz vor einer Biegung, kam das Drachenboot schließlich zum Stehen und breitete den unversehrten Flügel aus, um den Wind einzufangen. Da der gebrochene Flügel jedoch nutzlos an der Seite hing, fuhr das Boot immer nur im Kreis herum, bis Nicko auf der anderen Seite ein Ruder ins Wasser tauchte und so einen Ausgleich schaffte.
Septimus setzte sich erschöpft neben die Ruderpinne, und Jenna kam zu ihm nach hinten.
»Das war großartig, Sep.«
»Danke,Jenna.«
»Diese Wolke ...«, fuhr Jenna fort. »Hat sie uns vor dem Absturz bewahrt?«
Septimus nickte.
»Komisch«, sagte Nicko. »Sie hat so eigenartig gerochen. Kam mir irgendwie bekannt vor.«
»Tante Zeldas Hütte«, sagte Jenna fröhlich.
»Was? Wo?«
»Nein ... die Wolke! Sie hat nach gekochtem Kohl gerochen.«
In der Hüterhütte war Wolfsjunge aus einem tiefen Schlaf erwacht, und zum ersten Mal, seit er Spürnase gehalten hatte, taten seine Hände nicht mehr weh. Er setzte sich mühsam auf und versuchte sich zu erinnern, wo er war. Nach und nach fiel ihm alles wieder ein. Er erinnerte sich, wie 412 von ihm Abschied genommen hatte, und er erinnerte sich auch an die Hütte, aber an diese riesige Glasflasche, die an der Vordertür stand und den Eingang versperrte, konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. So etwas hatte er noch nie gesehen. Neben der Flasche lag ein riesiger Korkstöpsel, und neben dem Korkstöpsel stand Tante Zelda und spähte aufgeregt um die Flasche herum in den Abendhimmel.
Tante Zelda bemerkte, dass Wolfsjunge aufgewacht war. Sie kam zu ihm und setzte sich mit einem Seufzer neben ihn.
Wolfsjunge sah sie aus verschlafenen Augen an. »Ist mit 412 alles in Ordnung?«, fragte er leise.
»Das können wir nur hoffen«, antwortete Tante Zelda, ohne die Flasche aus den Augen zu lassen. »Ah ... da kommt sie!« Noch während sie sprach, wehten ein paar weiße Nebelschleier durch die offene Tür und hinein in die Flasche. Bald war aus den Schleiern ein langer Strom geworden, der zur Tür herein- und in die Flasche floss. Tante Zelda sprang auf, lief zu dem Ungetüm von Flasche hinüber und sah zu, wie der Nebel in sie hineinschlüpfte und dann rasend schnell in ihr herumwirbelte.
Der Nebel strömte noch ein paar Minuten lang, bis die Flasche randvoll war. Kaum war der letzte Fetzen in die Flasche zurückgekehrt, zog Tante Zelda eine kleine Phiole aus einer ihrer vielen Flickentaschen, stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ einen einzigen Tropfen einer leuchtend weißen Flüssigkeit in die Flaschenöffnung fallen. Der Nebel drehte sich wie ein Wirbelwind im Kreis und schrumpfte zu einem kleinen weißen Klumpen zusammen, der aussah wie ein Marshmallow.
»Gut«, seufzte Tante Zelda. »Jetzt ist es wieder Wolkenkonzentrat.« Sie hob mit beiden Händen den riesigen Korkstöpsel auf und stopfte ihn in den Flaschenhals. Dann schob sie die Flasche, in der die Wolkenkonzentratkugel herumkullerte wie eine Murmel, über den Fußboden, öffnete eine große Tür, die hinter Bücherregalen verborgen war, und bugsierte die Flasche in den Schrank dahinter.
Sie schloss die Schranktür mit einem leisen Klicken und ging nach draußen. Gemächlich wanderte sie bis zum Ende der Insel, blickte über das weite Marschland und hielt nach dem Drachenboot Ausschau. Doch sie konnte nichts entdecken, nicht den kleinsten Hinweis darauf, was mit ihm geschehen war. Sie schüttelte den Kopf und hoffte auf das Beste. Mehr konnte sie nicht tun. Dann ging sie denselben Weg zur Hütte zurück.
Kurz vor der Hütte stolperte sie über einen einzelnen braunen Stiefel. Sie hob ihn auf, sah, dass Stroh vom Dach im Schaft hing, und da wusste sie, dass es für Merrin bereits zu spät war.